Herausgegeben von Angehörigen, Freunden und Freundinnen politischer Gefangener in der BRD Angehörigen Info C 10190 D 10. 3. 1993 114 Preis: 1,20 DM Brief von Brigitte Mohnhaupt zuerst möchte ich was zu meinem ‚‚aus- gangspunkt“ im moment sagen, aus dem ich rede. die ganze zeit schon gibt es keine ge- meinsame und umfassendere erklärung von uns gefangenen, wie wir die situation jetzt begreifen und darin unsere sache be- stimmen. wir haben es nicht geschafft, die unterschiedlichen sicht- und denkweisen unter uns so weit zu klären, daß wir zu einem gemeinsamen grundverständnis in unserem politischen rangehen gekommen sind. aber reden müssen wir jetzt, um wieder einen praktischen zugriff auf unsere situa- tion zu Kriegen, jede/r selbst und in der auseinandersetzung hoffentlich wir alle und mit vielen zusammen. ich habe mich nach diesem letzten jahr ge- fragt, was für mich die „hauptsachen‘“ sind politisch, die — wenn ich einen strich unter alles ziehe — unaufgelöst und unge- klärt stehenbleiben und die wir nicht mit- schleppen können, wenn wir zu einem neuen anfang kommen wollen. eine solche hauptsache ist für mich das ganze problem, das aus der verknüpfung der entscheidung der raf für eine zäsur im ganzen politischen mit der freiheit der ge- fangenen entstanden ist. diese verknüpfung hat sich auf beides — auf die politische durchschlagskraft des schritts der rafund den sinn seiner bestim- mung genauso wie auf die anstrengung, endlich einen einschnitt in der staatspoli- tik gegen die gefangenen zu erkämpfen — im schlechten ausgewirkt, weil sie beidem den politischen inhalt entzogen oder ihn jedenfalls verwischt hat. den inhalt und den jeweils „eigenen boden“, um den wieder sehen zu können, denke ich, muß man die verknüpfung erst mal wieder auftrennen, in die zwei verschie- denen entwicklungen trennen, die darin auf eine falsche weise zusammengepolt sind. die eine entwicklung ist die, aus der auch wir gefangene die entscheidung der raf für notwendig und richtig halten, ausgehend vom historischen einschnitt mitte der 80er jahre, der kette weltweiter und innerge- sellschaftlicher umbrüche seitdem, der to- talisierung des kapitalsystems und damit der globalisierung der auseinanderset- zung, der kämpfe um lösungen gegen das elend und das verrecken, gegen die eska- lierende zerstörung in der „einen welt“ heute. das alles hat die bedingungen und den gan- zen bezugsrahmen, in dem sich revolutio- näre politik bewegt und bestimmt hat, auseinandergesprengt. eine einfache fort- setzung oder die „übertragung‘“ der alten bestimmungen auf die völlig veränderte situation weltweit ist nicht möglich, wir alle müssen die gesamten neuen bedin- gungen und die dimension des umbruchs überhaupt erst erfassen und zu einem neu- en gemeinsamen begriff in den grundfra- gen kommen. das ist das entscheidende, was der schritt der raf eröffnet hat, diesen prozeß von praktischer auseinandersetzung um unsere politik hier und für die entwick- lung der notwendigen neuen strategischen bestimmungen direkt anzufangen und zu fordern. ich weiß nicht, ob sich die kritik an der raf, die es gibt, vor allem an der entschei- dung selbst (also bewaffnete aktionen jetzt aussetzen) festmacht oder daran, wie sie diesen schritt politisch begründet und ver- mittelt haben. ich will hier auch in erster linie darüber reden, wie wir ihn selber be- greifen, aus dem, wie wir die letzten jahre nachgedacht haben. da ist für mich das aussetzen von aktionen die entscheidung, die der realen entwicklung entspricht, und politisch verantwortlich. wir haben die bewaffnete intervention hier in der metropole in einer strategi- schen gesamtkonzeption bestimmt, aus den zielen und dem strategischen zusam- menhang der internationalen befreiungs- kämpfe. unsere aktion also als funktion dieser strategie, die sie mit ihrem angriff materiell und politisch entwickeln will. das ist ihre aussage und ihr ziel. aber heute kann die bewaffnete aktion hier diese strategische funktion nicht mehr haben, gar nicht mehr erreichen, weil es die strategische gesamtkonzeption nicht mehr gibt. sie trifft die veränderte wirklichkeit nicht mehr. die auseinander- setzungen sind so viele geworden, die alle gleichzeitig nach lösungen verlangen, daß die „zentrale perspektive‘‘, wie sie histo- risch entwickelt war, die neu entstande- nen bedingungen nicht mehr erfassen kann. wir brauchen also einen gemeinsamen begriff von der „neuen realität des kapita- listischen systems‘, wie ein genosse von den tupamaros das gleiche ausdrückt, um zu den konkreten inhaltlichen bestimmun- gen für unsere politik jetzt kommen zu können. niemand kann heute sagen, wie die strategie der zukunft aussehen wird, das wird sich erst in den auseinanderset- zungen und kämpfen, die jetzt gekämpft werden, herausbilden. das ist für mich der wesentliche inhalt der entscheidung der raf. wir müssen klar sein zu unserer politik. zur gleichen zeit, als diese veränderungen anfıngen, sichtbar zu werden, standen wir hier im knast vor der frage, wie wir unse- ren gefangenenkampf weiterbestimmen. wir hatten neun kollektive hungerstreiks gemacht, um den permanenten ausnahme- zustand um uns, isolation, trennung, ver- einzelung zu durchbrechen und unsere zu- sammenlegung durchzusetzen. aber wir konnten die zusammenlegung immer nur für wenige erkämpfen (oder auch nur hal- ten), nie für alle. einige von uns waren in- zwischen 17, 15, 12 jahre gefangen, meh- rere so krank, daß ihre gesundheitliche wiederherstellung unter knastbedingun- gen ausgeschlossen war. es war klar, wir müssen jetzt endlich durchkommen, wir brauchen den direkten prozeß zusammen als überhaupt lebens- bedingung hier und um politisch handeln zu können. nicht nur unsere, die ganze si- m Aus dem Inhalt * Zum Prozeß gegen Angehörige we- gen „Bannmeilenverletzung‘“ in Bonn: Die Bannmeile, der Freispruch und nur wenig Freude x Aus einem Gespräch mit baskischen AnwältiInnen und AktivistiInnen vom 15. - 17.1.1993 yx Schlußwort von Klaus Croissant tuation brennt, aber wir können immer gerade nur das allernotwendigste hinkrie- gen, wir verständigen uns in abständen von wochen und monaten. die schwierigkeit, politisch zusammen zu handeln und eingreifen zu können, wurde immer krasser, mit unserem letzten streik 84/85 — nach 15 jahren kampf da- gegen — war die isolation in der öffent- lichkeit zum thema geworden, sie wurde nicht mehr als selbstverständlich akzep- tiert und war für den staat schließlich poli- tisch nicht mehr haltbar. es kamen die ganzen medienkampagnen („amnestie‘‘, „dialog‘‘), in der linken begann die dis- kussion, daß die gefangenen raus müssen. wirklich eingreifen konnten wir nur ganz begrenzt. da, wo wir es angefangen haben (die initiative zum „dialog“ 88), lief der versuch sofort wieder am staat auf. aber wir haben eine vorstellung ent- wickelt, die umrisse einer vorstellung, aus der wir auch unseren neuen kampf um die zusammenlegung, den streik 89, be- stimmt haben. das war unser „, gefange- nenprojekt“ mit dem kernpunkt diskus- sion — die möglichkeit für uns, teil der gesamten diskussion zu sein, ein offener austausch und diskussionsprozeß über alle fragen, die jetzt angefaßt und gelöst wer- den müssen, mit dem ziel, einen gemein- samen begriff der situation zu erarbeiten, den notwendigen neuen ausgangspunkt zusammen für unsere praxis weiter. und aus diesem prozeß konkrete schritte und initiativen zu entwickeln für unsere freiheit, jetzt den einschnitt in der ver- nichtungspraxis aus zwei jahrzehnten po- litisch durchzusetzen und für den staat un- ausweichlich zu machen. unsere zusammenlegung war die materiel- le voraussetzung dafür, wir können eine so umfassende, weitgespannte diskussion nur führen, wenn wir zusammen sind — wenn wir auch endlich selber zusammen reden und uns auseinandersetzen können. aber zusammen sind wir auch mit dem streik 89 nicht gekommen, obwohl so vie- le menschen wie noch nie unser ziel unter- stützt und sich eingesetzt haben — in der zuspitzung des streiks hat sich genau die walze gegen uns gefangene aufgerichtet, die dann im durchmarsch zu „groß- deutschland‘ weitergerolit ist. was im streik eine zeitlang aufgebro- chen war — daß es ein politischer konflikt ist, eine politische konfrontation, mit der der staat auch nur auf der politischen ebene umgehen kann —, war für die näch- sten drei jahre vollkommen wegge- schluckt. über die will ich später noch genauer re- den. an deren ende jedenfalls stand dann die sogenannte kinkel-initiative, der plan der koordinationsgruppe terrorismus, der das ganze letzte jahr so viel raum einge- nommen hat. im januar hat kinkel den kgt-plan in die öffentlichkeit gebracht, im april kam die entscheidung der raf für eine politische ZÄSUT. im ersten teil ihrer erklärung geht die 2 Angehörigen Info 114 x 11.3.1993 raf auf ihre gründe für diesen schritt ein, im zweiten auf kinkels ankündigung zu den gefangenen. und da fängt das problem an, das ich meine: beides wird verknüpft, die gefangenenfrage wird in bezug gesetzt zur entscheidung der guerilla, aktionen jetzt auszusetzen. so kommt eine politi- sche vermittlung rüber, als ob die raf-ent- scheidung in eine erwartungshaltung an den staat mündet: daß der nun, quasi als antwort, eine lösung für die gefangenen „zuläßt‘“. das hat beidem viel luft abgedreht. weil der inhaltliche kern der raf-entscheidung eben der schritt zur politischen neuorien- tierung ist und das strategische moment darin für den kampf- und organisierungs- prozeß bier — und nicht eine art „ange- bot“ an den staat, wie es dann für viele stehengeblieben ist. entsprechend hat unsere gefangenensa- che einen starken drall in die richtung be- kommen: um die freiheit muß nicht mehr gekämpft werden, sie muß nicht über- haupt erst politisch durchgesetzt werden, sondern das ist jetzt eine angelegenheit zwischen raf und staat und läuft im rah- men der „kinkel-initiative‘‘ still hinter den kulissen. das war, glaube ich, das schlimmste an dieser verknüpfung — daß sie den kampf- prozeß rausgekippt hat, auf den der schritt der raf ja aus ist und den er neu mit auf- bauen wili und ohne den die freiheit für uns gefangene wirklich nur ein frommer wunsch bleibt. sicher ist das ein fehler der raf gewesen, aber in der folge dann genauso unserer, weil wir, als wir gesehen haben, wohin das läuft, nichts getan haben, um ihn auf- zuheben. also ıhn inhaltlich aufzulösen und auf den realen zusammenhang zu bringen. denn natürlich hängt „alles“ zusammen, und die entscheidung der raf, die eskala- tion zurückzustellen, um den raum für eine grundlegende neue politisierung of- fenzuhalten, hat die situation insgesamt verändert. damit und mit der kurzen erklärung, die irmgard dann für uns gefangene gemacht hat, daß auch aus unserer sicht jetzt die entwicklung des politischen prozesses hier priorität hat, war auch für den staat eine veränderte ‚‚lage‘ da. alle ihre jahrzehntealten parolen, mit denen noch der winzigste schritt für die gefangenen jedesmal abgewürgt wurde, waren nicht mehr brauchbar. ein ein- schnitt in der staatlichen politik gegen uns war „objektiv“ möglich, der nach diesen 22 jahren nur die freiheit für alle sein kann, materielle schritte auf diese per- spektive zu. gekommen ist vom staat das gegenteil, „jetzt erst recht‘ der wahn, daß sie jetzt endlich auch diesen „bereich“ unter den absatz kriegen, an dem sie mit allen maß- nahmen und strategien immer nur aufge- laufen sind. eva hat im april geschrieben: ‚‚für uns ist jetzt die zeit, in der unsere freiheit er- kämpft werden kann, in der auch der schritt der raf richtig und dafür eine vor- aussetzung ist — anders wäre ‚freiheit‘ bloß ein schöner traum.“ so sehe ich es auch, weil es einfach rea- listisch ist. wenn gleichzeitig angriffe der guerilla laufen, wird hier keine mobilisie- rung für die freiheit der gefangenen fuß fassen können, auch wenn sie breit ist und zäh am ziel festhält — das ist aus den kräf- teverhältnissen hier so, der staat türmt dann sein ganzes arsenal dagegen auf und drückt den politischen inhalt weg, macht es zur reinen machtfrage. daß sie das jetzt nicht können, daß jetzt die möglichkeit da ist, mit unseren politi- schen inhalten durchzukommen und wei- terzukommen, für ihre durchsetzung „in der gesellschaft“ zu kämpfen — dieser reale zugriff auf die situation ist durch die politische verwirrung im letzten jahr fast untergegangen. aber den zugriff müssen wir jetzt krie- gen. deswegen ist es mir auch wichtig, die „verknüpfung‘‘ auf den boden zu holen, weil man sonst nicht klar denken kann. das haben wir ja an uns selber gesehen die ganze letzte zeit. und es ist eben ein grundiegender unterschied: die raf hat dem staat nichts „‚angeboten‘‘ —— keinen deal, weil sie sowieso das handtuch wer- fen und vorher noch schnell das gefange- nenproblem „bereinigen‘“ will, und auch keinen waffenstilistand, in dem es um ver- handlungen mit dem staat über die gefan- genen geht. sie hat aus ihren bestimmungen eine po- litisch notwendige entscheidung getrof- fen, die für die entwicklung radikaler und revolutionärer politik hier neue möglich- keiten enthält. es gibt mittlerweile ein so großes loch von mißverständnissen und sich gegensei- tig nicht verstehen, daß ich noch etwas sa- gen möchte. ich habe nicht deswegen mit der „verknüpfung‘‘ als erster hauptsache für mich angefangen, um irgendwie aus- zudrücken, daran hinge jetzt alles, was politisch nicht auf die füße gekommen ist. das wäre einfach nur falsch, weil es auch nicht eine sache allein ist, die man nur auf- zulösen braucht, und dann ist wieder „Klarheit“ rundum. das kann erst ergeb- nis eines weiteren und tieferen diskus- sionsprozesses mit vielen sein, in dem wir auch erst mal voneinander begreifen müs- sen, was jede/r sieht und denkt, und war- um. nein, ich hab damit angefangen, weil der schritt der raf für mich das entschei- dend wichtige war, weil er eine ganz an- dere bedeutung und auswirkung hat als alles, was auf unserer „ebene“ — der der gefangenen — passiert. eben auch im in- ternationalen zusammenhang, in der dis- kussion mit genossinnen und genossen aus anderen ländern, in den fragen und gedan- ken dazu, die wir mitkriegen. deswegen komme ich erst jetzt zu uns ge- fangenen direkt und zu unserer eigenen politik in den letzten drei jahren. und das ist die zweite hauptsache für mich, die wir anfassen und klären müssen in der ausein- andersetzung jetzt. dazu muß ich nochmal zum streik 89 zu- rückgehen und zu dem, was ich vorhin ge- sagt habe, daß sich in der zuspitzung da- mals die walze gegen uns aufgerichtet hat, die dann als ‚‚rechte‘‘, als etablierte reak- tionäre macht offen rausgekommen ist im weitermarsch zur annexion der ddr, zur neuen militärischen interventionsmacht, zum harten kern der weißen festung euro- pa. mit dieser, in der konfrontation ja ganz di- rekten erfahrung, was da als rechter block sichtbar wird, sind wir aus dem streik rausgegangen, und mit dem bewußtsein, daß wir wie im streik jetzt weiterkämpfen müssen, wo wir es trotz trennung und elenden bedingungen geschafft hatten, ihn gemeinsam zu bestimmen und unsere po- litik durch seine ganze entwicklung durch ın der hand zu behalten. der streik war noch mal konzentriert die erfahrung, daß unsere reale stärke als ge- fangene unser koilektiver zusammenhang ist und daß wir, wenn wir als handelndes kollektiv politisch da sind jetzt weiter, auch durchkommen können mit unseren zielen. aber das kollektiv ist eben nicht einfach „da“, weil wir alle gleichzeitig im knast sind und eine gemeinsame politische ge- schichte haben, es ist nur möglich als dau- ernder prozeß, in dem alle mit der ganzen kraft um den zusammenhang kämpfen. und das haben wir nach dem streik nicht mehr gemacht. es ist klar, es gibt auch eine erschöpfung aus den vielen jahren, wo jede/r sich immer wieder aus der ver- einzelung rauskämpfen muß. und die äu- Seren bedingungen haben es uns auch nicht leichter gemacht, die trennung ging für die meisten unverändert weiter, es kamen die bka-razzien, jedesmal haben sie wieder die ganze post, jeden fetzen papier abgeschleppt, jeder gedanke von uns war „illegal“, sobald er aufgeschrieben war. aber ich glaube, in den drei jahren ist uns das gemeinsame srundverständnis verlorengegangen, daß wir nur zusammen diesen kampf nicht verlieren werden und die kraft finden, die wir brauchen. die subjektive kraft und die politische. das ist ja unsere fundamentale erfahrung aus un- serer ganzen knastgeschichte, nur zusam- men waren wir in den ersten jahren über- haupt fähig, die isolation zu begreifen und nicht an ihr kaputtzugehen, dagegen kämpfen zu können und unsere ziele unter diesen ganz anderen bedingungen weiter- zubestimmen. auch in der reduzierung hier, über jahre und jahre, ist es diese anstrengung, den prozeß mit den anderen zu wollen und zu suchen, in der unsere lebensweise, wie wir draußen auch gekämpft haben, immer noch real wird. und wie hier trotz allem politischer prozeß möglich ist, kampf um veränderung, veränderung der bedingun- gen und die eigene veränderung, die eige- ne weiterentwicklung als mensch. sonst wäre der knast wirklich nur stillstand, ohnmacht und langsames verrecken. diese gemeinsame anstrengung haben wir nicht mehr aufgebracht, das bedürf- nis, um den prozeß zusammen zu kämp- fen, war nicht mehr das wichtigste. das ist für mich der grund, warum wir auch die politischen widersprüche unter uns, die in dieser zeit offen geworden sind, wenn schon nicht lösen, dann doch wenigstens rational klären konnten. was sich durch die drei jahre durchzieht, ist eine politische richtung, die uns in mei- nem verständnis langsam aber sicher zu objekten machen wird, zum gegenstand staatlichen schaltens und waltens, wenn wir das nicht ganz aufknakken jetzt. das fängt an mit der „cdu/spd-linie‘“, die nach dem streik aufkam. in den cdu- ländern gab es absolut gar keine verände- rungen, in den spd-ländern einige wenige (die neue kleingruppe iu köln, und in lü- beck, wo die gefangenen seit langem nur noch zu dritt waren, kam gabi aus berlin dazu). also weiter die unterschiede in den ländern, weil die regierungsentscheidung im streik negativ gewesen war. das war im wesentlichen keine andere situation als seit jahren, nur mit umgekehrten vorzei- chen: lange gab es kleingruppen nur in cdu-ländern, und für die spd war die zu- sammenlegung der größte teufel. aber nie sind wir deswegen auf die idee gekom- men, auf die cdu zu hoffen oder aus diesen unterschieden eine politische linie zu be- gründen, unser politisches rangehen dar- an zu bestimmen. es gibt zu den gefange- nen keinen „widerspruch‘ zwischen den pärteien, was mit uns passieren soll, darin sind sie sich immer am schnellsten einig gewesen, es gibt wenn nur unterschiede im vorgehen im blick auf die jeweils eige- nen wählerInnen. so wie sich die spd dann im streik die verfassungsschutz-linie zu eigen gemacht hat. das soll nicht heißen, daß wir blind sind und möglichkeiten nicht aufgreifen, wenn sie durch dieses unterschiedliche vorge- hen sichtbar werden. aber unsere politik daran zu bestimmen, kann nur der holz- weg sein und eine umkehrung und auflö- sung vom ganzen verhältnis: daß es hier keine lösung für uns gibt, kein winziges stück boden, das wir uns nicht erkämpfen müssen, gegen den staat politisch durch- setzen und erkämpfen müssen. und es war ja auch der holzweg, die spd hat trotz zahlreicher gespräche keinen fin- ger gerührt, um irgendeine bewegung in die erstarrte situation zu bringen. es geht hier nicht um ein schema von „falsch“ und ‚richtig‘, sondern darum, was die basis unseres politischen handelns ist, wie wir uns selbst bestimmen und dar- aus unsere politischen schritte und initiati- ven. dieser knick im grundverhältnis hat sich fortgesetzt mit der linie von den ‚‚zwei fraktionen im staat“ — eine besonnene, die jetzt auch zu einem politischeren um- gang mit den gefangenen und revolutionä- rer praxis insgesamt bereit wäre, und eine, die so weitermacht wie bisher. diese „zwei fraktionen‘‘ sind schon durch die allgemeine diskussion gegangen, bevor dann im april auch die raf von ihnen gere- det hat. aber wer soll das sein, wer ist da- mit gemeint? kinkel und der verfassungs- sschutz auf der einen seite, das bka und die bundesanwaltschaft auf der anderen? und was soll das heißen — für uns? daß wir alle nun schauen, welche fraktion sich „durchsetzt‘‘, wie die raf sagt ? die realität, mit der wir es zu tun haben, ist eine andere. wir haben in dem zusam- menhang ja schon auf die kgt hingewie- sen, nicht weil das das wichtigste ist, aber ein unmittelbarer widerspruch dazu, der ins gesicht springt. die kgt ist die operati- ve Koordinierung von politischen und staatsschutzapparaten, ein extra-legaler zusammenschluß zu mehr effizienz, schnelleren, abgestimmten entscheidun- gen, die dann von allen ebenen getragen und umgesetzt werden. entscheidungen wie die „kinkel-initiative““. es ist ein märchen, der baw darin die rolle der grauen eminenz zuzuschreiben, wie es die faz so gerne tut, um zu vermit- teln, politisch sei ja viel mehr gewollt, nur die baw hat sich wieder dazwischenge- worfen. die baw hat in dieser struktur ihre bestimmte funktion: sie führt die sache aus. was die baw macht, ist die „kinkel- initiative‘“. sie setzt sie um auf der prakti- schen ebene: justiz/volizug, wie sie seit 1970 die politische linie gegen uns um- setzt. es ist ganz einfach nicht wahr, daß „eigentlich“ politisch was_anderes ge- wolit wird als das, was auch tatsächlich gemacht wird. auch die neuen prozesse gegen uns sind kein querschläger der einen fraktion gegen die andere, sondern bestandteil der gesamten entscheidung. der kgt-plan bezog sich von anfang an nicht auf alle gefangenen. trotzdem haben wir, als das kam, nicht sofort abgewinkt, sondern wir haben kin- kels ankündigung damals auch als aus- druck der 22 jahre konfrontation raf-- staat und gefangene— staat genommen, in denen sie weder die raf militärisch ver- nichten noch unseren zusammenhang als gefangene zerbrechen konnten. und wir haben sie am einzig realen punkt angefaßt (denn der kgt-plan war schließlich nur ein plan, mehr nicht): daß damit die gefange- nensache als politische frage öffentlich je- denfalls wieder auf dem tisch war, und daß es so auch ein ansatzpunkt sein kann, mit dem, was wir wollen, weiterzukom- men, eben jetzt einen wirklichen politi- schen einschnitt herauszukämpfen, die freiheit für alle. daß wir unser ziel nur in einem langen und schwierigen kampf politisch durch- setzen können, war klar, und es war auch allen klar, daß „freiheit für alle“ im kgt- plan nicht vorkommt, das hat kinkel in tutzing und in bonn auch selber deutlich gesagt. es war ein fehler, daß wir uns nicht gleich damals öffentlich konkret und ge- nau damit auseinandergesetzt haben — auch ohne konsens unter uns und mit un- terschiedlichen einschätzungen, denn was Angehörigen Info 114 x 11.3.1993 3 wir jetzt machen, als ‚einzelne‘ reden, hätten wir damals genauso gekonnt. aber der größere fehler liegt darin, daß wir nicht schon lange mit einer eigenen in- itiative da waren, daß wir so auch nur rea- gieren Konnten. das ganze jahr davor gab es diskussionen, 1992 zum internationa- len jahr für die freiheit der politischen ge- fangenen zu erklären und in den veranstal- tungen und initiativen, die zum 500jähri- gen kampf gegen die weiße beherrschung und ausplünderung der welt hier stattfin- den, auch dieses ziel politisch voranzu- bringen. es gab andere überlegungen, die wirklichkeit der 20 jahre gefangenen- kampf zum thema zu machen. aber wir selber haben keine konkrete vorstellung auf die füße gebracht, wir waren zu lang- sam, und dann kam der staat mit seiner vorstellung raus. aber weiter mit den „zwei fraktionen‘“. drei monate später hat die raf ihre ent- scheidung Öffentlich gemacht, die eskala- tion zurückzunehmen, bestimmt als schritt zu einer umfassenden politischen neuorientierung. damit war auch der kgt- pian über den haufen geworfen, in dem es ja praktisch darum ging, den gefangenen abzupressen, daß sie sich mit dem staat „versöhnen‘“ müssen, wenn sie nicht ewig sitzen wollen. sich mit dem staat ver- söhnen, heißt zu erklären, daß es heute nicht mehr notwendig ist, für revolutionä- re umwälzung zu kämpfen. politisch hätte das bedeutet, nicht nur die eigenen ziele aufzugeben, sondern auch gleichzeitig der raf damit die legitimation abzusprechen, weiter zu kämpfen. insofern war der kgt- plan auch nur eine variation der alten sa- che, ihres alten ziels, über die gefangenen die raf politisch zu zerstören. der schritt der raf hat diesen tüfteleien, wie hoch sie jetzt das stöckchen halten wollen, über das wir springen sollen, mit der entlassung quasi als wurst vor der na- se, erst mal den boden entzogen. er hat klargemacht, daß der politische prozeß objektiv längst weiter ist. ganz abgesehen davon, was für ein hohn das ist, was für ein irrsinn auch, als ob wir ihre manöv- riermasse sind, als ob unser kampf ohne inhalt ist. wir sind heute keine anderen menschen als vor 10 oder 20 jahren, aber das haben sie janoch nie kapiert. es gab dann nach der erklärung der raf noch mal eine entscheidung zu uns im ap- parat. im august wurde sie unseren anwäl- ten von der neuen justizministerin mitge- teilt: 1. kein politischer umgang mit der ge- fangenenfrage, deswegen auch keine „‚ge- samtlösung‘“ für die freiheit von allen, sondern über jahre hingezogen entlassun- gen als individuelle verfahren auf der ju- stizschiene, einzelbeurteilungen nach ge- waltverzicht und „günstiger sozialprog- nose‘“ ; 2. die neuen verfahren gegen uns auf der grundlage von kronzeugenaussagen werden nicht eingestellt, sondern durch- geführt, weil jedes weitere lebenslänglich zur „schwere der schuld‘ zählt, die wie- 4 Angehörigen Info 114 x 11.3.1993 derum über den zeitpunkt der entlassung entscheidet; 3. es gibt keine zusammenlegung, wer jetzt noch alleine ist, soll es auch in zu- kunft bleiben (das ist rolf seit 13 jahren — bald werden es 14 sein, christian und ich seit 10 jahren, manu seit acht, andrea, ri- co, chris und norbert seit fünf und sechs jahren) ; 4. es gibt auch kein treffen von allen ge- fangenen für eine woche, wie wir es wol- len, um endlich reden und uns verständi- gen zu können, wovon wir heute zusam- men ausgehen. das wars, ihre politische entscheidung, und ich möchte wirklich wissen, wo die zwei-fraktionen-theorie da die miteinander ringenden kräfte im appa- rat sieht. gut, aber so bleibt es politisch auch im- mer noch an der oberfläche, es reicht nicht zu sagen, daß diese „‚widersprüche im ap- parat‘ für uns keine feststellbare relevanz haben, oder auch weitergehend: daß es noch nie so wenig „zwei fraktionen“ ge- geben hat wie heute, weder in der politik gegenüber den menschen in der alten ddr noch ın der interventionspolitik, in der asylpolitik oder in irgendeiner anderen grundlegenden frage für diese gesell- schaft. was ich meine, liegt tiefer — das grund- verhältnis, aus dem wir uns seibst bestim- men, und wie wir uns eine politik, die ra- dikale veränderungen erkämpfen kann, vorstellen. das ist nicht ‚‚nur‘‘ das verhält- nis zum staat, sondern der gesamte exi- stentielle widerspruch mensch — kapital- system, aus dem man anfängt, etwas an- deres zu suchen und zu versuchen, die exi- stentielle erfahrung, daß leben, lebens- qualität und lebenssinn nur gegen diese realität des systems möglich wird. das ist für mich immer die wurzel unseres kampfs und unserer identität gewesen. wenn wir heute sagen, die probleme sind so viele und so zugespitzt, so brennend, daß überall lösungen sofort notwendig sind, die auch nur zusammen mit einer neuen gesellschaftlichen basis und gesell- schaftlichen intervention erkämpft wer- den können — eben von allen kräften, die eine umkehrung der entwicklung durch- setzen wollen —, dann kann das ganz si- cher nicht heißen: ohne diese identität, ohne dieses verhältnis. das ist doch das schwere hier „im her- zen der bestie“ im stakkato von leistung und konsum, sinnentleertem leben, zer- störten menschlichen beziehungen und menschlichen werten, überhaupt erst zu sich zu finden, den sinn vom eigenen le- ben zu bestimmen und darum zu kämpfen, ihn zu realisieren, die menschen zu su- chen, die für das gleiche ziel aufgestanden sind und darum kämpfen wollen: für eine menschliche welt, im einfachsten sinn. also identität herzustellen gegen die lee- re, die eigene achse zu finden und im poli- tischen rangehen wiederzufinden, die trennung zwischen eigenem leben und kampf um veränderung, die hier die härte- ste blockierung von wirklicher politischer entwicklung ist, ganz aufzulösen. die „zwei fraktionen‘“ sind ja nur ein bei- spiel, aber eben ein reales, eins aus dem real-existierenden politischen denken. ein denken, wo nicht mehr die eigenen ziele und daraus die suche nach der eigenen konkreten politik, den möglichkeiten der kern ist, sondern wo der ansatzpunkt zum eigenen handeln auf den staat verlagert wird, was er aus seiner interessenlage an raum für uns ‚„‚zuläßt‘‘ oder auch nicht. aber so wird nichts weitergehen, nur die neuen alten illusionen werden auf dem bauch landen und so das gefühl, daß ‚‚hier nichts geht‘, noch verstärken. ich glaube, daß es in der auseinander- setzung um eine neue politische grundlage jetzt ganz entscheidend darum gehen wird, dieses „‚übermachts-denken‘“ auf- zubrechen — daß der staat so stark ist, daß wir doch nie durchkommen mit unseren zielen — und das subjekt neu herauszuho- len im ganzen politischen begriff und be- wußtsein. für mich ist das jedenfalls ein kernpunkt, über den ich reden will, weil mich das seit jahren beschäftigt. denn mit dieser übermacht waren und sind wir ja genauso konfrontiert, wir sind genauso durch niederlagen und einbrüche gegangen wie alle hier in diesen 25 jahren. aber unser verhältnis war nie, daß deswe- gen nichts möglich ist in diesem land. es stimmt ja auch nicht, unsere erfahrung ist genau, daß sehr viel möglich ist, wenn wir nicht stehenbleiben und uns den politi- schen zugriff auf die sich verändernden bedingungen immer wieder neu erkämp- fen. soweit zum letzten jahr und zu unserer ge- fangenensache. das kann natürlich jetzt nicht mehr als ein ausschnitt sein, zusam- mengefaßt aus der diskussion unter uns (soweit sie möglich war) und konzentriert auf diese zwei probleme. wahrscheinlich wird es in den verschie- denen beiträgen, die jetzt von uns zusam- menkommen, auch widersprüche oder of- fene gegensätze dazu geben. aber das ist unsere situation. mir ist das wichtigste jetzt, daß für alle, die sich mit uns ausein- andersetzen, klar und nachvollziehbar wird, was wir konkret denken und warum wir so denken. so kann dann auch ein anfang für die diskussion und politische klärung daraus werden, von der wir schon so lange reden, daß wir damit jetzt beginnen. Diesen Brief von Brigitte Mohnhaupt und weitere Briefe von Heidi Schulz, Christian Kiar, Rolf Heißler, Knut Folkerts und Lutz Taufer — Gefangene aus der RAF — können bestellt werden bei: Infostelle für die Freiheit der politi- schen Gefangenen, Heddernheimer Landstraße 155, c/o Weißes Haus, 3. Stock, 6000 Frankfurt / Main. Bestellungen bitte schriftlich an die- se Adresse und 6 DM in Briefmarken beilegen, as eine richtige, eine wehrhafte Demokratie sein will, das schützt seine gewählten Volksvertreter bei ihren gesetzgeberischen Aufgaben vor Einfluß- nahme durch das Volk, und zwar auch dann, wenn diese gerade in Urlaub oder ihr Parlament seit Jahren eine Bauruine 1st. Zu diesem Zweck gibt es die „„Bannmei- le“, deren Grenzen (wahrscheinlich aus Gründen der inneren Sicherheit!!!) öf- fentlich weder genau bekannt noch vor Ort erkennbar sind. Mit dieser Errungenschaft und dem da- zu gehörenden Gesetz ist die BRD — wie kann es anders sein, führend, weil einma- lig unter den westlichen Demokratien — zumal sie von sämtlichen Bundesländern und Stadtstaaten, außer Bremen, über- nommen wurde. Einer konsequenten Auffassung von FDGO folgend, umfaßt diese Schutzzone in Bonn dann auch gleich das Gebäude des für nur vier Jahre gewählten Kanzlers und seines Beamtenapparats, obwohl diese mit der Gesetzgebung nichts zu tun haben. Der Grund für diese vorsorgliche Einbe- ziehung kann nur der sein, daß Kanzler, parlamentarische Staatssekretäre und Mi- nister des Öfteren ihren Machtapparaten entsteigen, um vorübergehend ihre zweite Funktion als Bundestagsabgeordnete wahrzunehmen und sich an Abstimmun- gen des Parlaments zu beteiligen — frei von jedem Fraktionszwang, nur ihrem Gewissen gehorchend und vor allem — dank Bannmeile -— unbeeinflußt durch In- teressenskundgebungen kleiner Gruppen rund um das Kanzleramt. Da — wie von hohen und höchsten, ver- antwortungstragenden Personen aus Re- gierungskreisen inzwischen wiederholt versichert — von einschlägigen Interes- sengruppen für Rüstung, Pharma, Atom- kraft, umweltfressender Großprojekte u.ä. keinerlei Einflußnahme ausgeht, eine solche bisher auch weder versucht wurde, noch je von Erfolg gekrönt war, ist an die Schließung der Lobby im Bun- destag oder das Verbot von Industriever- treterbesuchen nicht gedacht. Auch der Einfluß auf Rundfunk, Fernsehen und Printmedien soll weiterhin ausschließlich den großen Interessengruppen vorbehal- ten bleiben, die das freie Spiel der Kräfte innerhalb der „Marktwirtschaft‘‘ richtig verinnerlicht haben: die Starken oben, die Schwachen unten, weltweite zahlen- mäßige Zunahme bei letzteren inbegrif- fen. Laut Politikeraussage können nämlich auch in einer Demokratie Menschenrech- te, Recht auf Leben und Recht auf unab- hängiges Denken nur eingeschränkt gel- ten. Das muß Konsens sein, wenn die Macht da bleiben soll, wo sie derzeit ist. So kommt es u.a. immer häufiger zur Anwendung des Gesetzes gegen Bann- meilenverletzung bei kleinen Gruppen (was sich wiederum in den Statistiken als Die Bannmeile, der Freispruch und nur wenig Freude steigende Kriminalität mit Ruf nach mehr innerer Sicherheit niederschlägt), wobei „Klein“ nichts mit der Anzahl der De- monstrierenden, sondern mit der obrig- keitsgewollten Einstufung der Gruppe als unwichtig, nebensächlich, vernachlässig- bar und daher lästig zu tun hat. So können sie folgerichtig in den Medien als ‚‚die Straße“, und Lieschen Müller, als Chao- ten und Leute, die nicht teilen wollen, Ex- tremisten, Utopisten, Spinner, Radikale, Militante, ewig Gestrige oder als Sympa- thisanten irgendwelcher Diskriminierter oder eben auch nur „sogenannte wasauch- immer“ niedergemacht werden, um Zu- schauer und Leser am Nachdenken über Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu hindern und jeden Widerstand für sinnlos zu erklären. Am Beispiel der Anklage gegen Angehö- rige und Freunde der politischen Gefange- nen kann die ganze Pervertierung des Be- griffs Demokratie und die Absurdität des Bannmeilengesetzes deutlich gemacht werden. Wenn unabhängige (vor was eigent- lich 7?) deutsche Richter uneins sind, ob drei oder sieben Leute eine Gruppe bilden — oder ob die Anzahl vielleicht überhaupt egal ist —, dann kann man das eher schon komisch finden. ro Daß dieses Gesetz aber ein fester Be- standteil des Unterdrückungsapparats ist, wird an der Kriminalisierung der Angehö- rigen und Freunde der politischen Gefan- genen überdeutlich: In einem Brief an den Bundeskanzler kün- digen sie für einen bestimmten Tag mit genauer Stunde ihr Erscheinen zu einem Gespräch über haftunfähige Gefangene an. Daß mehrere Polizisten sie vor dem Kanz- leramt abfangen, läßt auf Weitergabe des Briefinhalts an die Verfolgungsbehörden schließen. Daß nur zwölf von ca. dreißig Personen kontrolliert und ihre Persona- lien festgehalten werden, zeigt den selek- tiven Charakter, den solche Maßnahmen haben, spekulierend, daß Repressien meist auch so funktioniert. Obwohl diese Gesetzesübertretung nur als Gruppe möglich ist, wird der erste Prozeß zehn Monate später (!!) gegen eine Einzel- person angesetzt — mit fünf Polizisten als Belastungszeugen, von denen nur einer erscheint. Der erinnert sich an nichts oder nur unge- fähr und macht damit klar, daß die vorge- sehene Verurteilung schnell und routine- mäßig vonstatten gehen soll. Es soll offensichtlich zudem keine Rolle spielen, daß die Regierung bei ihrer Arbeit kei- nen Anspruch auf Schutz durch dieses Ge- setz hat daß ein Regierungsgebäude und nicht gesetzgebende Organe das Ziel der Grup- pe waren daß das genaue Gesprächsthema, das mit Gesetzgebung nicht das geringste zu tun hatte, vorher schriftlich angekündigt worden war ferner, daß das Regierungsgebäude nur unter Durchquerung der unsichtbaren Bannmeile erreichbar ist und das Auftreten der Gruppe, selbst nach Bekundung der Polizei, keinerlei demonstrative Form hatte und mitgeführ- te Großfotos ohne Widerstand wegge- bracht wurden. daß andere Gruppen innerhalb der Bannmeile unbehelligt blieben daß keiner der Polizisten angeben konn- te oder wollte, wer sie beauftragt hatte, die Gruppe der Angehörigen anzuhalten, und warum. Erst zum zweiten Prozeßtermin, an dem endlich auch die anderen Polizisten zur weiteren Be- und eine präsente Zeugin zur Entlastung gehört wurden, erfolgte der Freispruch von Helga. Der auslösende Faktor: es konnte nicht widerlegt werden, daß die Angeklagte ca. fünfzehn Meter vor der übrigen Gruppe gegangen ist. Kein Grund also zur Freude für einen politisch denkenden Menschen. Das Gesetz selbst wurde keinen Augen- blick lang durchleuchtet oder gar in Frage gestellt. Am 15.3.93 um li Uhr wird der Prozeß gegen fünf weitere „Angeklagte“ aus der Gruppe der Angehörigen und Freunde der politischen Gefangenen fortgesetzt. Kommt, seht und hört. Auch diese vorder- sründig klein erscheinenden Anlässe ha- ben für die Durchsetzung herrschender Politik große Bedeutung. Rechtsfreie Räume schließen, heißt für sie, alles unter Verfolgung stellen kön- nen. * Amtsgericht Bonn, Wilhelmstr. 23 Das Plakat ‚Freiheit für alle politi- schen Gefangenen“ ist wieder erhält- lich — ohne den Demoaufdruck vom 20.6.92. Es kann bezogen werden über die Redaktionsanschrift (siehe Impressum). Bis 5 Stück kostet es je 2 DM, ab 5 bis 10 Stück 1.50 DM und ab 10 Stück je 1 DM, alles zuzüglich Por- tokosten. Angehörigen Info 114 x 11.3,1993 5 D as hier ist ein Auszug aus einem län- geren Gespräch, ein Auszug, von dem wir denken, daß der Inhalt für die Einschätzung der aktuellen Situation der Gefangenen hier von Bedeutung ist. Ungefähr ab 1989 wurden die baskischen Gefangenen aus ihren Kollektiven ausein- andergerissen und „aufgeteilt“ in x Knä- ste. 4-10 Gefangene kamen in einen Knast und darin wiederum isoliert vonein- ander in verschiedene Trakte. Das Ziel des Staates ist es, die Gefange- nen zu brechen, zum Abschwören zu brin- gen, zu spalten. Die Mittel, die Techniken dazu sind: die Isolation, die Aufsplittung, die Bezie- hungen nach draußen zu kappen. Gleichzeitig mit der Isolation in ver- schiedenen Knästen werden die Anwalts- besuche versucht zu torpedieren, Anwälte werden nicht reingelassen. Und Gefange- ne, bei denen keine Anwaltsbesuche mög- lich waren, werden unter starken Repres- sionsdruck gesetzt. Sie schätzen es auch so ein, daß das Vorgehen gegen die Gefangenen auch ein Mittel gegen den Kampf der ETA ist und so eingesetzt wird. Da diese Spaltungspolitik des Staates bei den Gefangenen keine relevanten Früchte hervorbrachte, gehen die Repressionsor- gane folgendermaßen vor: Es gibt in Spanien ein Strafvollzugssy- stem von verschiedenen ‚Klassen‘“ Das bedeutete, dab Gefangene durch „gutes Verhalten‘ höhere Einstufungen bekom- men, d.h. bessere Bedingungen, und ge- nauso wieder zurückgestuft werden kön- nen. Dieses System wurde bis zur Zerstreu- ung der politischen Gefangenen auf sie nicht angewandt. Es wurde auf die sozia- ien Gefangenen angewandt. Seit der Zerstreuung der politischen Gefangenen auf x Knäste wird es auch auf sie angewandt. Konkret geschah folgendes — politische Gefangene, ein Teil von ihnen, werden plötzlich in die höchste Einstufung dieses Klassensystems ge- bracht, das heißt Vorzüge in den Haftbe- dingungen, ohne daß diese Gefangenen ihr Verhalten geändert hätten. Der Staat kreiert eine Situation, den Schein einer Situation, die er in Wirklich- keit nicht erreichte: daß die Gefangenen ihr Verhalten geändert hätten, daß sie sich spalten ließen. Die Repressionsorgane versuchten so, Mißtrauen zu schüren, sowohl unter den Gefangenen wie draußen bei den politi- schen AktivistInnen und vor allem bei den Angehörigen der politischen Gefangenen. Mißtrauen in die Richtung — hat sich das Verhalten des Gefangenen verändert, hat er/sie abgeschworen ? Und das auf der Basis der Aufsplittung, Isolierung der Gefangenen, also einer Si- tuation, wo nicht sofort klar war, was ist los, was stimmt ... Dieses Mißtrauen wurde durch ver- schiedene Vorgehensweisen massiv ge- 6 Angehörigen Info 114 x 11.3.1993 Aus einem Gespräch mit baskischen Anwältinnen und politischen Aktivistinnen vom 15. - 17. 1. 93 schürt, zum Beispiel kommen die B. zu einzelnen Angehörigen und sagen ihnen: Dein Sohn ist ein Trottel, schau mal, der und der hat doch viel bessere Haftbedin- gungen, warum verhäit dein Sohn sich nicktauchso ... Diese Methoden sind dann sehr ähnlich, bis dahin, daß Angehörige in der BRD in der Art angesprochen wurden. Die baskischen Gefangenen mußten in dieser Situation ihre Kämpfe verändern und darauf ausrichten. Wenn sie vorher die Konfrontation so bestimmten — in Revolten, Hunger- streiks, Verweigerung wie zum Beispiel Selbsteinschließung, so haben sie’s in der Phase jetzt erst mal so bestimmt, nicht die totale Konfrontation reinzugehen, son- dern als „politischer“ Widerstand und daraus Forderungen zu entwickeln. Konkrete Schritte dabei sind: daß die, die in einem Knast sind, gleiche Bedingungen bekommen, als gemeinsame Forderung für alle, daß sie zusammen- kommen; dann die Trennung von sozialen Gefan- genen, damit die politischen Gefangenen Entwicklungsraum haben ; verbesserte Lebensbedingungen für alle politischen Gefangenen in den verschie- denen Knästen; Abgleichung der Bedingungen der poli- tischen Gefangenen in den verschiedenen Knästen. Also der Schwerpunkt wird vor allem jetzt auf die Einheit gelegt, keine totale Kon- frontation wie z. B. Hungerstreik, um sich erst mal neue Ausgangsbedin- gungen zu schaffen. Anders gesagt — sie wollen erst mal die Einheit schaffen über „politisches“ Vorgehen, nicht über 'nen Kampfdruck wie Hungerstreik. Die allgemeine politische Forderung draußen bleibt natürlich die Amnestie und konkret die Wiederzusammenlegung. Sicher, Spaltungsversuche des Staates ge- genüber revolutionären Organisationen, Gefangenen gab und gibt es schon immer und überall. So richtig wie es ist, daß sie nur gelin- gen können, wenn die Bewegungen sich spalten lassen, also zum Beispiel ihr „‚in- nerer“ Zusammenhang eh brüchig ist, so falsch und idealistisch wird es, dar- aus die Konsequenz zu ziehen, die Spal- tungstaktik des Staates deshalb zu ignorie- ren. In jeder Phase des Kampfes hier mußten auch bestimmte Bekämpfungsmethoden des Staates durchbrochen werden bzw. in das eigene Vorgehen mit einbezogen wer- den, wie zum Beispiel zu der Zeit, als der Staatsschutz in den Knästen in der BRD und in der Propaganda den Scheinnormal- vollzug gezielt gegen die Zusammenle- gung einsetzte. r Es geht nicht um eine Überhöhung des Staates dabei, sondern einfach daß dieser Teil der Realität im eigenen politischen Vorgehen nicht ausgeblendet werden kann. Die „Überhöhung“ gibt es auch, seine „Allmacht‘“, als wäre das, was der Staat will, identisch mit dem, was bei den Ge- fangenen ist. Ein Extrem, wo sich das ausdrückt, ist die Behauptung: „Die Forderung nach Freiheit gilt nur für einen Teil der Gefan- genen, die, die Gewaltverzichtserklärung machten ... abgeschworen ... Verrat Eine „Position‘‘ mehr auf dem Metro- polenmeinungsmarkt, ausgetragen auf dem Rücken von Gefangenen, der Gueril- la, Leuten hier draußen, deren Sache nie einfach die „richtigen Positionen“ war und ist, sondern die Entwicklung eigener Praxis. Das sind ideologische Schlagabtausche, weil es mit der Suche nach dem richtigen Weg, Korrigieren von Fehlern, kritisch, selbstkritisch, dem Kampf nach dem Sinn, dem Kampf umeinander, nichts zu tun hat. Aber das sind die Kriterien, die zäh- len, bei allem, was offen ist, daran hat sich nichts verändert. Zurück zur Entwicklung im Baskenland. Paar Wochen nach dem Besuch der AnwältInnen und politischen AktivistIn- nen hier erreichte uns folgende Nach- richt: „Seit längerer Zeit wurden durch Presse- kampagnen Maßnahmen gegen die Rechtsanwältinnen vorbereitet. In ihrer Erklärung wird ein wesentlich längeres Kommaunique angekündigt und zuerst eine Chronologie der Ereignisse aufgeführt: Am 29. Januar wurde vom Generalsekre- tariat für Straf-/Haftangelegenheiten ans Justizministerium ein Schreiben geschickt (von A. Asunción), dem ,... eine wörtli- che Abschrift der Bänder beigefügt (ist) sowie die Bänder selbst, die bei den Besu- chen zwischen den ETA-Häftlingen Este- ban Esteban Nieto, Inaki de Juana Chaos und Joseba Artola Ibarretxe mit den Rechtsanwälten Gorodita und Amatxaste- gi (Familiennamen) am 12. Januar aufge- nommen wurden. Dieses Gespräch wurde mit Beschluß aufgezeichnet, da es verschiedene Hin- weise dafür gab, daß die Häftlinge über ihre Rechtsanwälte die Durchführung von lerroranschlägen koordinieren und steu- EIN. Am 3.Februar wird Haftbefehl für die beiden RechtsanwältInnen Arantxa Zu- lueta und Txemi Gorochita (Vornamen) beantragt und die Beamten verhört, die das Gespräch aufgenommen haben. Außerdem wird der Beschluß für weitere Aufzeichnungen zurückgenommen. Am 4.Februar erläßt Ismael Moreno (Untersuchungsrichter) Haftbefehl gegen Txema, und Arantxa kommt gegen eine Kaution von 300000 Peseten (etwa 4000 DM) frei. Txema wird der Unterstützung, möglicherweise Mitgliedschaft beschul- digt. Ebenfalls am 4. Februar untersu- chen Beamte der Ertzantza (baskische Po- lizei) auf Anweisung desselben Richters das Hauptbüro der Gestoras (Gefangenen- solidaritätsgruppe) in Gasteiz, wo norma- lerweise der Rechtsanwalt Txema Matan- zas arbeitet. Dabei wird dessen Anwalts- gehilfin, Bittori Rekalde, festgenommen. Die Polizei nimmt zahlreiche Doku- mente mit, die Mehrzahl politische Schriftstücke der Gestoras, sowie viele Schreiben, die überhaupt nicht von den Anwälten sind, sondern anderen dort ar- beitenden Gestoras-Mitgliedern gehören. Außerdem wird für Bittori Rekalde In- kommunikation verfügt (das entspricht einer Kontaktsperre, ist bei Verhaftung bis zu 10 Tage möglich, Anm.). Am 5. Februar verfügt der Richter die Geheimhaltung sämtlicher Tätigkeiten in Ich möchte das letzte Wort nicht der Ver- gangenheit, sondern der Zukunft wid- men. Über Vergangenheit einschließlich dessen, was in diesem Verfahren als Tat- zeit bezeichnet wird, habe ich in meiner Prozeßerklärung zu Beginn der Hauptver- handlung genug geredet. l. Nach meiner Freilassung werde ich als erstes meine Anwaltstätigkeit in mei- ner Kanzlei wiederaufnehmen, in der mich die Bundesanwaltschaft am 14. Sep- tember 1992 mit Hilfe eines willfährigen Ermittlungsrichters des Bundesgerichts- hofes verhaften ließ. Das wird nicht ganz leicht sein. Ich schulde dem Justizfiskus des Landes Ba- den-Württemberg noch Gerichtskosten in Höhe von 253460,25 DM, die in meinen nunmehr 15 Jahre zurückliegenden und 73 Tage währenden Stammheimer Prozeß aufgelaufen sind. Das Stuttgarter Justiz- ministerium hat mir bereits einen Vorge- schmack der Entschlossenheit vermittelt, mit der diese Kostenforderung nunmehr beigetrieben werden soll. Es hat vor kur- zem mein Gefangenenkonto bei der JVA Moabit gepfändet, auf dem sich ein Gut- haben von circa 100 DM für den laufen- den Einkauf von Gegenständen des tägli- chen Bedarfs wie Obst, Kaffee, Tee, Schreibwaren und hygienischen Artikeln befand. Dieses Vorgehen zeigt, auf wel- chem Niveau inzwischen die Auseinan- dersetzung um eine real existierende alte Rechnung geführt wird. Ich werde mich gleichwohl bemühen, mit dem schwäbischen Justizfiskus zu einer Lösung zu gelangen, die den Beson- bezug auf den Fall (d.h. Nachrichten- sperre?!) und untersagt anderen Rechts- anwältInnen den Zugang zu/die Vertei- digung von Bittori. Zusätzlich ein paar Angaben: — Die Verhaftung von Arantxa wurde der Presse bereits eine Stunde vor- ihrer Durchführung gemeldet, zu einem Zeit- punkt, als sie gerade einen Gefangenenbe- such machte. Außerdem hat sie unmittel- bar vor ihrer Festnahme noch einem Pro- zeß in der Audiencia Nacional beige- wohnt, wo der Staatsanwalt im selben Saal ihre Festnahme verfügte und vorbe- Teitete, — Obwohl die Ermittlungen unter Nach- richtensperre laufen, bekam die Nach- richtenagentur EFE Zugang zu den Ge- sprächsprotokollen, und Auszüge aus die- sen wurden in allen Medien veröffent- licht. Aus Zeitungsartikein wird u.a. deutlich, daß es in Euskadi einen großen Pressewirbel gibt und daß Innen- und Ju- stizministerium heftig gegen die Rechts- anwältInnen hetzen. Ein Beispiel: Die Rechtsanwältinnen würden Unterschrif- ten ihrer MandantInnen fälschen, u.a. um sie ‚auf Linie zu bringen‘, denn es gä- be Kritik an bewaffnetem Kampf und Ge- fangene, die schon längst draußen sein könnten, weil sie abschwören wollten, was aber durch die angeblichen Unter- schriftsfälschungen verhindert würde. Außerdem würden die Gefangenen dazu gezwungen, bzw. wieder per Unter- schriftsfälschung, von diesen Rechtsan- wältInnen verteidigt zu werden ... Dann geht es noch darum, daß das Innenmini- sterium allen baskischen Gefangenen einen Brief von „Eugenio Etxebeste‘ oder ‚Antxon‘ zukommen lassen will (scheint ein Abschwörer zu sein) — was von den RechtsanwältInnen angeblich verhindert würde —, ‚um sicherzustellen, daß die Häftlinge nicht manipulierte Informatio- nen bekämen .. < Dann gibt es noch eine Stellungnahme des Innenministers Cor- cuera, der feststellt, daß es viele Spannun- gen unter dem Gefangenenkollektiv gäbe und viele, die den bewaffneten Kampf be- endet sehen wollten, aber daß man (noch) nicht von einer Phase des Zerfalls spre- chen könne“ Gisel Dutzi Schreibt mit der Forderung nach Freilas- sung der Rechtsanwältlnnen an: — Ismael Moreno, Juez titular del juzgado central de instrucción N? 2, Audiencia Nacional, c/ Garcia Gutierrez 1, 28004 Madrid, Fax: 0034-1-30861 35 — Antoni Asunciön Hernandez, Secreta- rio General de Asuntos Penitenciarios, c/ Alcala 38, 28072 Madrid, Fax: 0034-1-5232087 Schiußwort von Klaus Croissant derheiten seiner Gerichtskostenforderung Rechnung trägt. Dazu gehört für mich, daß es nicht nur eine ungerechte Verfol- gung gibt — darüber möchte ich mich nicht mehr streiten —, sondern auch ein Übermaß an Verfolgung. Davon aller- dings könnte ich inzwischen ein Lied sin- gen, 2. Neben meiner beruflichen Tätigkeit werde ich es mir nicht nehmen lassen, auch weiterhin politisch tätig zu sein. Nach der mir vorgeworfenen Tat möch- te ich allerdings über die Art meiner poli- tischen Tätigkeit keinerlei Zweifel auf- kommen lassen. Ich habe den Akten ent- nommen, daß einer meiner Gesprächs- partner in der DDR befragt wurde, ob ich vom MfS dem KGB übergeben worden sei. Diese Frage ist dem Protokoll des Bundeskriminalamtes unter Band II, Bl. 134 zu entnehmen. Mein Gesprächs- partner hat diese Frage zutreffend ver- neint. Ich darf gleichwohl vorsorglich versichern, daß ich weder die Absicht ha- be noch die Neigung verspüre, in Zukunft in Kontakt zum Geheimdienst eines Staa- tes der ehemaligen Sowjetunion oder ir- gend eines andren Staates zu treten. Mein Bedarf an Geheimdiensten ist für den Rest meines Lebens gedeckt. Abgesehen davon ist der großangelegte Versuch der führenden westlichen Indu- striestaaten einschließlich ihrer Geheim- : dienste und Denkfabriken, die Idee von einer sozial gerechten Welt aus den Her- zen und Hirnen der Menschen zu verban- nen, angesichts der rapide anwachsenden Probleme des kapitalistischen Weltsy- stems zum Scheitern verurteilt. Aus dem Zusammenbruch des realsozialistischen Staatensystems folgt, daß es die Aufgabe der gesamten Linken sein muß, Sozialis- mus als menschenwürdiges Gesellschafts- system von Grund auf neu zu denken und zu entwikkeln. Dazu gehört die kritische Auseinandersetzung mit allen Ursachen, die zum Scheitern des Realsozialismus ge- führt haben. Ich bekenne mich nach wie vor zu dem Ziel einer sozialistischen Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Schon vor meiner Inhaftierung und ver- stärkt während meiner Moabiter Haftzeit habe ich mich mit dem Gedanken beschäf- tigt, wie der völligen Niederwalzung von allem, was mit der DDR und ihrer Ge- schichte verbunden war, entgegengewirkt werden kann. Ich meine, daß es an der Zeit ist, der seit dem Untergang der DDR auf Hochtouren laufenden Kampagne ent- gegenzutreten, die unterlassene Ausein- andersetzung mit dem NS-Staat nun an der DDR zum Nachteil aller Menschen nachzuholen, die nach der Befreiung vom Faschismus den schließlich gescheiterten Versuch unternommen haben, ein anderes — sozialistisches — Deutschland aufzu- bauen. Angehörigen Info 114 x 11.3.1993 7 Die Zeit erscheint reif, durch ein Schwarzbuch zu dokumentieren, daß und weshalb die Politik der gezielten Vernich- tung aller Spuren der DDR vor keinem gesellschaftlichen Bereich haltmacht. Tausende und Zehntausende von Bürge- rinnen des in der BRD aufgegangenen Staates DDR sollen im Rahmen dieser Spurenvernichtung durch Strafverfahren, Kündigungen von Arbeits- und Mietver- hältnissen, neue Berufsverbote und selbst durch Kürzung von Sozialrenten gesell- schaftlich ausgegrenzt werden. Ziel des Schwarzbuches muß es deshalb sein, Tat- sachen, Gründe und Ziele des Scherben- gerichtes offenzulegen, das die BRD über die DDR, das siegreiche über das besiegte Gesellschaftssystem veranstaltet. Das Schwarzbuch soll die überfällige breitan- gelegte Diskussion über die beschleunigte Beendigung dieser Art von Vergangen- heitsbewältigung anfachen. Diese Diskus- sion soll in die nach Sachlage gebotenen Gesetzesinitiativen einmünden. Dafür möchte ich mich konkret einset- zen. 3. Schließlich möchte ich eine Tätig- keit fortsetzen, die ich in den letzten Mo- naten vor meiner Inhaftierung ausgeübt habe. Ich meine damit den öffentlichen Einsatz für die Freilassung derjenigen, die ich als Gefangene aus der RAF einst verteidigt habe. Viele von ihnen befinden sich seit über 15 Jahren in Haft, Irmgard Möller seit 21 Jahren. Die Freilassungsin- itiative darf nicht an den Hardlinern im Staatsapparat und in den Gerichten schei- tern. Erst kürzlich hat der Generalbundes- anwalt die Gefahr neuer Anschläge der RAF an die Wand gemalt, während der Innenminister des Landes Nordrhein- Westfalen versuchte, den Richtern der Oberlandesgerichte Düsseldorf und Ham- burg vorsorglich die Verantwortung für die befürchteten neuen Toten in die Schu- he zu schieben. Ich meine deshalb, daß die öffentliche Diskussion um die Freilassung der Gefan- genen verstärkt mit dem Ziel fortgeführt werden muß, die Initiative Schritt für Schritt zum Erfolg zu führen. 4. Last but not least: ich habe auch noch Familienangehörige, die mir nahe- Impressum stehen und die seit 6 Monaten unter mei- ner Inhaftierung leiden. Sie und viele Freundinnen und Freunde freuen sich, mich wieder in Freiheit zu sehen. Korrektur zum Brief von Knut Folkerts im Info 113 Im „Brief von Knut Folkerts, Gefangener aus der RAF“, den wir im Angehörigen Info 113 abgedruckt haben, sind uns leider einige Fehler unterlaufen, die wir nach- folgend korrigieren wollen: Auf Seite 2, 2.Spalte, 2. Absatz muß es statt: „widersprüche in jedem fall nur für eine mobilisierung in unsre richtung genutzt werden können“ heißen: ‚‚wi- dersprüche in jedem fall nur über eine mobilisierung in unsre richtung genutzt werden können.“ Auf Seite 2, 3.Spalte, 5. Absatz muß es statt: „damit wir nicht auf eine offene medienlage stoßen und den politischen und materiellen inhalt durchsetzen kön- nen, haben sie das ganze erst nach zehn tagen gestoppt” heißen: „damit wir nicht auf eine offene medienlage stoßen und den politischen und materiellen inhalt durchsetzen können, haben sie das ganze erstmal nach zehn tagen gestoppt.“ Auf Seite 3, 1.Spalte, 7. Absatz muß es statt: „‚die texte der raf von diesem jahr sind kritische reflexionen der eigenpraxis im zusammenhang der gesellschaftlichen und staatlichen entwicklung, so tiefge- hend und umfassend, wie es sie zuvor nicht gab!“ heißen: ‚‚die texte der raf von diesem jahr sind kritische reflexionen der eigenen praxis im zusammenhang der ge- sellschaftlichen und staatlichen entwick- lung, so tiefgehend und umfassend, wie es sie zuvor nicht gab.“ Seite 3, 3.Spalte, 1.Absatz muß es statt: „unterhalb der wertekritik läuft nichts mehr weiter‘“ heißen: „unterhalb der wertkritik läuft nichts mehr weiter“ Einen weiteren Fehler auf der 2. Seite in der 2.Spalte unten wollen wir noch korrigieren: Kinkel hat nicht Anfang 91, sondern Anfang 92 die Freilassung von Gefangenen aus der RAF öffentlich the- matisiert. (d. Red.) Herausgeber: Angehörige und Freundinnen politischer Gefangener in der BRD, Postlagerkarte 050205, 6230 Frankfurt/M. 80. Erscheint vierzehntäglich bei GNN Gesellschaft für Nach- richtenerfassung und Nachrichtenverbreitung in Schleswig-Holstein/Hamburg m.b.H., Güntherstr. 6a, 2000 Hamburg 76. V.i.S.d.P.: Christoph von Hören. Redaktionsanschrift und Bestellungen: GNN-Verlag, Güntherstr. 6a, 2000 Hamburg 76, Tel.: (040) 2204278, Fax: (040) 2297419. Einzelpreis: 1,20 DM. Ein Halbjahresabonnement kostet 28,60 DM, ein Halbjahresförderabonnement 39 DM, Buchläden, Infoläden und sonstige Weiterverkäufer erhalten bei einer Bestellung ab 3 Stück 30 % Rabatt, ab 50 Stück das Heft zu 0,75 DM, jeweils plus Versandkosten. Bei Bestellungen bitte Einzugsvollmacht beifügen oder Überweisung auf das folgende Verlagskonto: Hamburger Sparkasse, BLZ 20050550, Konto-Nr. 1330/110055. — Druck: Eigendruck im Selbstverlag. Eigentumsvorbehalt: Nach diesem Eigentumsvorbehalt ist das Angehörigen-Info so lange Eigentum des Absenders, bis es dem Gefangenen ausgehändigt wird. „Zur-Habe-Nahme“‘ ist kei- ne Aushändigung im Sinne des Vorbehalts. Wird das Info dem Gefangenen nicht persönlich aus- gehändigt, ist es dem Absender mit dem Grund der Nichtaushändigung zurückzuschicken. Spendenkonto der Angehörigen: Sonderkonto Kiener, Landesgirokasse Stuttgart, BLZ 600 501 01, Kt.-Nr. 5454 194. 8 Angehörigen Info 114 & 11.3.1993 Broschüren, Zeitungen, Bücher an Gefangene Leute, die Gefangenen Broschüren, Zei- tungen oder Bücher schicken wollen, soll- ten dies den Gefangenen jeweils vorher mit Angabe von Titel und Bestelladresse schreiben. Die Aushändigung wird näm- lich in der Regel nur nach vorheriger Be- antragung genehmigt — wenn überhaupt. Ansonsten wird routinemäßig mit der Begründung ‚‚ungenehmigte Sendung“ angehalten. Unabhängig vom politischen Inhalt verschwindet solche Post dann in der sogenannten ‚Habe‘ der Gefange- nen. Eine vorherige Beantragung durch die Gefangenen erhöht die Chance, daß Euer Material schließlich auch durch- kommt — es kann als „genehmigte Sen- dung“ wenigstens nicht mehr formal, sondern muß am Inhalt begründet ange- halten werden. Termine Hamburg. 13.3., ab 16 Uhr, Rote Flora, „Zur Aktualität von Malcolm X“ Doku- mentarfilm, Vorträge, Diskussion. Berlin. 14.3., 20 Uhr, Taborkirche, Ta- borstraße, „Musik und Lyrik“, Orgelmu- sik von Joh. Brahms, internationale Texte von Gefangenen, Gemälde von Angelika Goder und Tim Blunk. Sprecherin: N.N., Orgel: Thomas Wegst. Eintritt frei. Hamburg. 17.3., 19 Uhr, Café Frau Dö- se, Bartelsstr. 10, Nachbereitung der Ver- anstaltung vom 29.1. „Die Würde des Menschen ist antastbar‘“, Es soll da auch um weitere Perspektiven gehen. Hamburg. 17.3., 20 Uhr, Stadtteiletage im Schanzenhof, Veranstaltung mit Jorge Palma Donoso aus dem chilenischen Wi- derstand. Bonn. 19.3., 20 Uhr, Uni Mensa, Nasse- str., „Wer war Malcolm X?“ Veranstal- tung mit Kwome Somburu. Bonn. 1.4., 17 Uhr, Cafeteria der Uni Mensa, Nassestr., Veranstaltung ‚Zur aktuellen Situation im Gaza-Streifen‘‘ mit zwei Vertretern aus den besetzten Gebie- ten. Bremen. ?26.3.-28.3., Hochschule für Technik, Neustadtswall, 13. Bundeskon- greß der ImmigrantInnen und Flüchtlings- gruppen „Antirassistische Strategien“, Beginn am 26. 3. um 20 Uhr. Aufruf zu einer Demonstration am 27.3. in Stuttgart, 11 Uhr, Schloßlatz, und in Mainz, 11 Uhr, Gutenbergplatz für die Freilassung von Stephan Waldberg und gegen die Menschenrechtsverletzun- gen in der Türkei. Redaktionsschluß für die nächste Aus- gabe : 19. 3. 1993